„So eine Chance hatte ich noch nie“

Virus, Pandemie und auch: Krise – Corona fordert nicht nur das Gesundheitssystem, die Gesellschaft und das Individuum heraus, sondern auch Unternehmer*innen und ihr Wirken. Negativ wie positiv. Steffi Biester von KICKFAIR sieht vor allem das Positive. Sie ist davon überzeugt, dass die Krise auch Kräfte freisetzen kann. Ein Gespräch.
Steffi Biester
Source: Steffi Biester/Kickfair

Dass Corona in Deutschland ankam, liegt nun schon ein paar Monate zurück. Wie erging es dir und KICKFAIR als Unternehmen anfangs?

Als Mitte März der Lockdown kam, mussten wir aus dem totalen Hochbetrieb abrupt abbremsen. Das betraf Entwicklungsthemen, Projekte vor Ort oder die Ashoka-Fellowship. Was sich ziemlich schnell zeigte, war, dass dieses Abbremsen nicht nur unsere Zielgruppe betraf, sondern auch das Team. Viele Kolleg*innen mussten sich plötzlich mit der neuen Situation zu Hause – viele haben kleine Kinder –, aber auch im beruflichen Wirken neu zurechtfinden. Das war sehr herausfordernd.

Kannst du ein Beispiel nennen?

Einige Aufgaben sind einfach weggebrochen. Mit einem Mal. Einfach so. Zum Beispiel Aufgaben mit Jugendlichen, Lehrkräften sowie Schulsozialarbeiter*innen vor Ort. Aufgaben, aus denen jede*r einzelne hier Sinn und Zufriedenheit zieht – und die mit einem Mal, einfach so, weg waren. Wir sind eine kollegial geführte Organisation, der Sinn der Arbeit steht im Vordergrund. Für uns bedeutet das: Mit Jugendlichen und Schule Perspektiven zu verändern. Wenn dieser Sinn plötzlich wegfällt, weil die Aufgabe an Schule wegfällt, entsteht erstmal so was wie Lähmung. Und man fragt sich: Was mache ich denn jetzt?

Wie hast du, habt ihr reagiert? Was habt ihr gemacht?

Unser Konzept ist erst einmal analog. Wir mussten uns also überlegen, was davon wir digital fortführen können. Die Frage, wie es unserer Zielgruppe geht und was sie braucht, war dabei entscheidend. Wie erreichen wir die Jugendlichen auch weiterhin? Was können wir beisteuern, damit es ihnen auch in dieser Zeit gut geht? Mit digitalen Angeboten, das merkten wir ziemlich schnell, würden wir einen Großteil der Jugendlichen ausschließen. Ich habe schon sehr früh, also gleich zu Beginn von Corona, ausgedrückt, auch nach draußen hin, dass wir bei der Digitalisierung von Lernangeboten aufmerksam und sensibel hinschauen müssen.  Wir brauchen sie, ja. Sie ist wichtig ja, und gerade jetzt tun sich Chancen auf. Aber eben nicht nur. Ein Anliegen von KICKFAIR ist es, Ungleichheit abzubauen – wir müssen genau hinschauen, wo Digitalisierung Positives bewirken kann, und wo sie diese Ungleichheit jedoch nur noch verstärkt.

Also habt ihr, anders als viele andere, nicht auf die Digitalisierung gesetzt?

Wie gesagt: Doch. An einigen Stellen schon. Denn ich glaube schon, dass wir sie zum Teil brauchen. Wir haben uns allerdings erst einmal gefragt: Was braucht unsere Zielgruppe? Unabhängig davon, ob analog oder digital. Einfach war das nicht, weil alle um uns herum Druck gemacht haben: Wo sind eure digitalen Angebote? Wie macht ihr es? Wir sind trotzdem fokussiert geblieben, obwohl wir teilweise auch echt unsicher waren. Das erste, was wir umgesetzt haben, waren dann tatsächlich zwei digitale Formate: regelmäßige Youth Leader-Treffen und ein deutschlandweites Schultreffen mit Lehrkräften und Schulsozialarbeiter*innen. Ab diesem Zeitpunkt begann der kreative Prozess.

Inwiefern?

Jugendliche, die unser Programm bereits durchlaufen haben und nun andere Jugendliche unterstützen, nennen wir Youth Leader. Diese Youth Leader haben, mit unserer Unterstützung, digitale Weiterbildungsformate entwickelt, also Webinare zu bestimmten Themen. Eines etwa zum Thema Solidarität: Was heißt für uns Solidarität – jetzt und auch danach? Ist Solidarität eigentlich ein Privileg, dass man sich auch „leisten“ können muss? Die Jugendlichen haben wöchentliche Challenges entwickelt rund um KICKFAIR-Themen, um Jugendlichen zu signalisieren: Hey wir sind weiterhin da und ihr seid wichtig!

Was habt ihr darüber hinaus umgesetzt?

Mit unseren Partnerschulen haben wir einen HipHop-Track geteilt, auf den die Jugendlichen rappen können – am Ende wird das dann zusammengeschnitten. Ein anderes Beispiel: Schon vor Corona hatten wir sogenannte Gefühlskarten entwickelt. Für diejenigen, denen es schwer fällt, sich auszudrücken. Aus diesen Gefühlskarten sind nun Postkarten geworden, die sich die Jugendlichen gegenseitig zuschicken. Von Schule zu Schule bundesweit, aber auch nach Hause. Ähnlich läuft es mit Videobotschaften. Und dann entwickeln sich gerade neue Spielformen, die auch mit Distanz funktionieren. Wir schaffen gerade weitere Räume für Jugendliche, in denen sie wachsen können, lernen können, sich treffen können. Sich beheimatet fühlen. Es geht darum, Zusammenhalt zu fördern und das Gefühl, gemeinsam stark zu sein.

Man spricht immer von „nach Corona“. Im Sport gibt es Untersuchungen, dass Menschen beispielsweise zehn Kilometer laufen können, wenn sie vorher wissen, zehn Kilometer laufen zu müssen. Jeder Meter mehr wird anschließend zur Herausforderung. Beziehungsweise unmöglich. Wie schafft ihr es, die Motivation aufrecht zu erhalten – ohne zu wissen, wie lange die derzeitige Situation anhalten wird?

Wenn wir sagen „nach Corona“, meinen wir nicht: zurück zum business as usual. Wir wollen nicht zu einem Punkt zurück, an dem wir bereits waren. Für uns ist das Jetzt ein neues Zeitalter. Das klingt etwas pathetisch, aber es ist eine Zeit, in der wir verstärkt Dinge in Frage stellen: Wie soll die Schule aussehen, in der alle lernen können? In der alle ihre Potenziale entfalten können? Da schmieden wir gerade neue Allianzen, bringen Neues voran, entwickeln neue Ideen. Corona bedeutet, dass gewisse Dinge nicht möglich sind – und andere dafür schon. Ich will damit nicht sagen, dass Corona an sich etwas Positives ist, das ist es definitiv nicht! Aber, wenn wir sonst oft sagten: Könnten wir machen, sagen wir jetzt öfter: Können wir machen. So eine Chance hatte ich noch nie.